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Das Ende der Normalität

Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war, Piper Taschenbuch

Erschienen am 16.04.2012
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492274890
Sprache: Deutsch
Umfang: 182 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 18.8 x 12 cm
Einband: kartoniertes Buch

Leseprobe

1   Reise zum Mittelpunkt der Erde   Es ist leichter zum Mond zu gelangen, als in das Innere unserer Erde vorzustoßen. Bisher haben zwölf Männer die rund 360 000 Kilometer lange Reise hinter sich gebracht. Wie hypnotisiert saßen wir vor dem Fernseher, als die ersten Mondmenschen über die Kraterlandschaft hüpften. US-Präsident Richard Nixon rief aus dem Weißen Haus in der Apollo 11 an, um ihnen und uns allen zu gratulieren: 'Der Himmel wird nun Teil der Menschheit', schnarrte es durch die Leitung. Den Bemühungen, zum Erdmittelpunkt vorzudringen, war bisher kein solcher Erfolg vergönnt. Die ergiebigste Bohrung fand auf der russischen Halbinsel Kola statt und kam über zwölf Kilometer Tiefe nicht hinaus. Dann hatte sich der Bohrkopf in der Erdkruste festgefressen. Wäre die Welt eine Tomate, hätten die Wissenschaftler nicht mal die Schale durchstochen. Dennoch besitzen wir heute eine klare Vorstellung davon, wie es unter der Erdoberfläche aussieht. Im Zentrum der Weltkugel befindet sich der Erdkern mit einem Durchmesser, der in etwa der Strecke von Hamburg zum Gardasee entspricht. Dieser harte Kern besteht vor allem aus Eisen und Nickel. Um ihn herum schmiegt sich ein zweiter, ein glühend roter Kern, der aus geschmolzenem Eisen besteht. Sein Radius ist doppelt so groß wie der harte Kern, also einmal Hamburg-Gardasee und zurück. Dieses eiserne Innere hält unsere Welt zusammen. Vom Erdmittelpunkt geht jene Anziehungskraft aus, die allem anderen Halt gibt. Würde der Mega-Magnet aufhören, seine Schwingungen auszusenden, bestünde ein ziemliches Durcheinander auf Erden. Teller und Tassen würden zu schweben beginnen, unsere Kinder müssten wir anbinden wie Esel, Ruderboote würden den Himmel bevölkern wie früher die Zeppeline. Neben der Erdanziehung gibt es einen zweiten Magnetismus, der über die Jahrhunderte mit vergleichbarer Präzision gewirkt hat. Er war für den inneren Zusammenhalt der Welt von ähnlicher Bedeutung, auch wenn die Gravitationsforscher ihm bisher keinerlei Beachtung schenkten. Seine Anziehungskraft bestand zwischen dem Einzelnen und den ihn umgebenden Mächten, der Kirche, der Familie, der Firma und dem Staat. Zwar besitzen wir Menschen kein Sinnesorgan, mit dem wir Magnetismus hören, riechen, schmecken oder sehen können. Aber man spürte jahrtausendelang die Wirkung. Diese Anziehungskräfte zogen Großvater und Großmutter wie zuvor schon Urgroßvater und Urgroßmutter zu den immer gleichen Zeiten an die immer gleichen Orte, weshalb sie das immer gleiche Leben lebten. Morgens ging man aufs Feld hinaus, später dann in die Fabrik und von dort mit dem Ertönen der Werkssirene zurück zur Familie. Selbst am Sonntagmorgen lief alles wie ferngesteuert. Nahezu zur gleichen Zeit flogen im ganzen Land die Haustüren auf, und Eltern, Kinder und Großeltern strömten in Richtung Gotteshaus. 'Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten gezogen', rief Büchners Danton. Es gab kein Abseitsstehen und kein Entweichen. Die großen Magneten, die offenbar höhere Mächte im Innern von Kirchen, Fabriken und Elternhaus installiert hatten, waren stärker als die Individuen, die ihnen ausgesetzt waren. Der Einzelne, die Gesellschaft, auch das Verhältnis der Staaten untereinander folgten 'dem Lauf der Dinge', so die gängige Redensart. Das Leben verlief auf unsichtbaren Gleisen, die andere verlegt hatten. Das war nicht nur so, das wurde auch so gesehen. Erst vor dem Hintergrund einer tief empfundenen Vorherbestimmtheit konnte der von Goebbels erschaffene Mythos, Hitler sei 'Werkzeug der Vorsehung', bei den Deutschen verfangen. Der Magnetismus des Lebens wirkte im Innern jedes Einzelnen. Die menschliche Seele, jener Ort, an dem wir den Kompass des Lebens vermuten, war eingenordet auf die Werte der jeweiligen Zeit: Ordnung, Pünktlichkeit und die Fähigkeit zur Selbstverleugnung gehörten immer dazu, aber auch Gottesfurcht und Geschwisterliebe, Fleiß und Gehorsam; Humor, Selbstkritik und Mitgefühl nicht unbedingt. Keiner war das, was er war, nur durch