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MERKUR 2/2018

72. Jahrgang, Februar 2018, MERKUR, Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Erschienen am 30.06.2022, 1. Auflage 2018
14,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608974645
Sprache: Deutsch
Umfang: 102 S.
Format (T/L/B): 0.8 x 23.2 x 15.3 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Wer ist heute die Arbeiterklasse? Gibt es sie noch? Ist der Begriff überholt, ist der Begriff und ist die Arbeiterklasse heute eher rechts als links? Thomas Steinfeld und Patrick Eiden-Offen geben, beide in Bezug auf die Rezeption Didier Eribons, zum Auftakt des Februarhefts (Nr. 825) recht unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Auf Eribon (dazu noch auf Bourdieu) bezieht sich auch Caspar Hirschi in seinem historischen Vergleich der Intellektuellenrolle vor allem in Frankreich. Über Kochen als Kunst von Marinetti bis Adrià denkt Benno Heussen nach. In ihrer Filmkolumne berichtet Elena Meilicke von der Duisburger Filmwoche und nimmt das zum Anlass, über den aktuellen Stand des Dokumentarfilmemachens nachzudenken. Die Übersetzerin Claudia Hamm schreibt über ihre Begegnung mit (den Büchern von) Annie Ernaux und Didier Eribon. Außerdem: Lukas Haffert über Berlin als Ziel deutscher Elitenkritik. Marcel Serr über den Typus des "Lone Wolf"-Terroristen. Martin Sabrow über Sowjetheimkehrer in der DDR-Geschichtswissenschaft. Martin Roda Becher über Patienten im Netz. Dominik Riedo über das Schweizer-Schriftsteller-Sein. Und Kathrin Röggla, in ihrer Reaktion auf Enis Maci, über den NSU-Prozess.

Autorenportrait

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Leseprobe

Zitate aus Merkur, Nr. 825, Februar 2018 Das Lob der Arbeiter gehörte zum elementaren Gedankengut der Faschisten (die sich in Deutschland keineswegs zufällig Nationalsozialisten nannten), heute findet es sich im intellektuellen Repertoire der sogenannten Rechtspopulisten wieder, wenn sie zwischen 'wertschöpfenden' und 'wertabschöpfenden' Klassen unterscheiden. Auch in der Rede von den 'einfachen', aber 'hart arbeitenden Leuten', die 'den Laden am Laufen halten' (Martin Schulz), ist jene Moral enthalten. Thomas Steinfeld, Der Held der Arbeiterklasse Es gibt nichts absolut 'Vorkapitalistisches', das irgendwann dann komplett zerstört und ins kapitalistische Regime integriert wäre. Und wenn alles 'Bisherige' immer neu zerstört werden kann, dann ist Proletarisierung selbst kein abgeschlossener, vielleicht sogar überhaupt kein abschließbarer Prozess. Solidarsysteme und erkämpfte Sozialstandards können ebenso (wieder) angegriffen werden wie 'bisher' noch marktferne Bereiche der kollektiven wie individuellen Existenz. Patrick Eiden-Offe, Der Prolet ist ein anderer 1997 wurde die bürgerliche Regierung Juppé von der sozialistischen Regierung Jospin abgelöst, und als sich diese anschickte, ihrerseits einen politischen Reformkurs einzuschlagen, entbrannte von Neuem der alte Streit, wer die richtige Linke verkörpere. An führender Stelle beteiligt war Bourdieu, unter anderem mit einem Artikel in Le Monde, der den Titel 'Für eine Linke der Linken' trug und im Namen der linken Basis zum Wider¬stand gegen die 'neoliberale Troika Blair-Jospin-Schröder' aufrief. Caspar Hirschi, Eribon und Macron. Bourdieu und Juppé Beim Kochen geht es um die Kunst der Metamorphose, also der Verwandlung in unterschiedliche Zustände. Die Idee und Form eines Gegenstands, den wir essen, enthüllt sich erst in dessen Zerstörung, die beginnt, wenn unsere Hände ihn ergreifen, das Messer ihn zerschneidet, seine ersten Teile unseren Gaumen berühren und die Zähne ihn zerreißen. Während wir die meisten anderen Gegenstände der Kunst nicht einmal berühren dürfen, müssen wir sie hier vernichten, um beurteilen zu können, ob die Grenze zur Trivialität überschritten wird. Benno Heussen, Marinetti, Adrià und die Documenta 12 Die Pointe von Atelier de Conversation besteht dann aber darin, dass im eigentlich Nebensächlichen der einzelnen Sprechakte, la parole, ganz schön viel drinsteckt. Schließlich trifft hier die halbe Welt aufeinander, unterschiedliche Lebensumstände und Herkünfte, Kulturen und Religionen. Manchmal sitzen geopolitische Konflikte direkt nebeneinander - ein pensionierter türkischer Richter neben einem kurdischen Studenten, der aus Istanbul geflohen ist -, manchmal drohen sie auch zu eskalieren. Ein ägyptischer Kopte erregt sich einmal fürchterlich über die harmlose Bemerkung eines Moslems, dass es schwierig sei, in Paris halal-Fleisch zu kaufen. Elena Meilicke, Filmkolumne Früher waren es die Man-Sätze gewesen. Man kann doch nicht. Man muss doch. Wenn meine Mutter diese Man-Sätze sagte, war es aus. Dann half nur die Flucht in die Bücher, und das war die Flucht aus dem Man-Milieu. Und jetzt habe ich ein ganzes Buch voller Mans gelesen und finde mich darin wieder. Dieses Buch ist das 2009 in Frankreich erschienene Les années von Annie Ernaux, das jetzt endlich auch auf Deutsch vorliegt. Ich lerne Annie Ernaux kennen, ich moderiere ein Gespräch mit ihr und Didier Eribon in Frankfurt. Ich bin bewegt, ich bin fast wütend: Warum habe ich Ernaux nicht schon vor zwanzig Jahren gelesen? Claudia Hamm, Oh man In den Partei- und Fraktionszentralen der Bonner Republik arbeiteten Parteisoldaten, die ein Leben in Bonn in Kauf nahmen, um Politik machen zu können. In den Partei- und Fraktionszentralen der Berliner Republik dagegen arbeiten Kosmopoliten, die Politik in Kauf nehmen, um in Berlin leben zu können. Lukas Haffert, Metropole des Populismus - Berlin als Totem der Elitenkritik Einsame Wölfe sind in der Regel innovativ. Da sie nicht durch die Entscheidungsfindungsprozesse in Gruppen oder zwischenmenschliche Dynamiken eingehegt sind, können sie ihrer Kreativität bei der Entwicklung von Anschlagsplänen freien Lauf lassen. Im Gegensatz zu Terrorgruppen müssen sie nicht die Gegenschläge der Sicherheitskräfte auf die Organisationsstruktur einkalkulieren. Sie sind auch nicht auf Teile der Bevölkerung zur finanziellen, logistischen oder politischen Unterstützung angewiesen. Marcel Serr, "Lone Wolf"-Terrorismus und der "Islamische Staat" Vier von eigener oder familiärer Repression geprägte Überlebensschicksale der Stalinzeit. Und dennoch gliedert sich ihr fachliches Tun als Ko-Autoren des kanonbildenden Lehrbuchs der deutschen Geschichte (Stern und Ruge), als Zeithistoriker (Doernberg) oder als Lenin-Spezialist (Reisberg) ganz in das anderer DDR-Historiker ein. Keine einzige fachliche Ausarbeitung der vier Remigranten in der DDR steht in erkennbarer Beziehung zum dramatischen Verlauf der eigenen Lebensgeschichte. Wie erklären wir diesen Negativbefund? Martin Sabrow, Sowjetheimkehrer in der DDR-Geschichtswissenschaft Die Schweiz sieht sich mehr als ein Land, in dem jeder direktdemokratisch eine Meinung hat, die gleich wichtig ist wie des Nachbars Meinung. Während dieser Gedanke unleugbar nobel ist, ebnet er medial einen effektiv vorhandenen Bildungsvorteil von Intellektuellen ein, die in ihren jeweiligen Spezialgebieten sehr wohl auf Punkte aufmerksam machen könnten, die nicht allen Stimmberechtigten einfallen. Es ist aber leider so, dass Schriftsteller wie Lukas Bärfuss eher in deutschen Blättern veröffentlichen können, was sie Kritisches über die Schweiz zu sagen haben, als in hiesigen. Dominik Riedo, Über das Schreiben als Schriftsteller in der Schweiz Das Patientendossier gleicht einem Fortsetzungsroman, in dem Krisen und rettende Interventionen, Komplikationen und Zeiten der Rekonvaleszenz einander in dichter Folge ablösen können. Die Rolle des Patienten in diesem Fortsetzungsroman ist schwer zu definieren. Doch die Option, selbst handelnde Person zu sein, ist für ihn dabei bestimmend. Aus dem passiven Dulder, der sich schicksalsergeben ins Klinikbett oder auf den Operationstisch legte, ist ein Mitspieler geworden, der über die Risiken und Komplikationen seiner Behandlung genauestens informiert sein will. Martin Roda Becher, Zehntausend Schritte Doch auch ich bin bereits angesteckt vom Futur II: Das 'Fliegengesumm' wird bleiben, denke ich mir, das 'Fliegengesumm', wie der leitende Bundesstaatsanwalt Äußerungen im Umfeld der Nebenklage bezeichnet hat, das 'Fliegengesumm', ein Wort, das auf die Ausblendung eines wesentlichen Teils des Tathergangs hinauswill - zum Beispiel der staatlichen Verstrickung. Wir haben viel Fliegengesumm. Die blutbefleckten Männer in Heilbronn gehören zum Fliegengesumm, die Kasseler Nichtzeugengeschichte gehört zum Fliegengesumm, der ganze V-Männer-Bereich ist so ein Fliegengesumm, der Thüringer Heimatschutz ebenfalls. Kathrin Röggla, Keine Zoologie