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Möge die Nacht nicht enden

Novellen

Erschienen am 15.02.2022
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783866602847
Sprache: Deutsch
Umfang: 164 S.
Format (T/L/B): 1.4 x 21.2 x 14.1 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Aus dem Russischen von Erich Ahrndt In ihren Novellen verweist Angelina Polonskaja auf die eigene Biographie: Momente von Verlassen- und Verratensein, Tod und Trauer, Abschied und Angst, Gleichgültigkeit und der Unfähigkeit zu lieben. "Wie kann man die Erinnerung töten?", fragt sie. "Wir sind deine Gefangenen. Die durch die Gitterstäbe mit dem Blick nach dem einzigen Stern haschen. Vielleicht ist das ja unser Stern? Man darf sich nach Vergangenem nicht umdrehen. Sonst verwandeln sich die Sterne in Asche."

Autorenportrait

Angelina Polonskaja: geboren in Malakhovka, einer Kleinstadt unweit von Moskau.Seit 1998 gehört sie dem Moskauer Schriftstellervrerband an, 2003 wurde sie Mitgleid des russischen PEN. 2004 erschien in der Reihe Writings from an Unbound Europe der Northwestern University Press die englische Übersetzung ihres Buches unter dem Titel A Voice. Dieses Buch war 2005 für den Corneliu M. Popescu Prize for European Poetry in Translation nominiert. Seit 2006 ist Polonskaja immer wieder Stipendiatin verschiedener Schriftstellerzentren, u. a. des Cove Park Scottish Arts Council, des Hawthornden International Retreat for Writers, der MacDowell Colony, des Rockefeller Foundation Bellagio Center und der Villa Sträuli in Zürich. Polonskayas Gedichte wurden vielfach übersetzt und in zahlreichen führenden internationalen Lyrikmagazinen veröffentlicht, darunter in World Literature Today, Descant, Modern Poetry in Translation, Poetry Review UK, The Ameircan Poetry Review, and International Poetry Review, Boulevar, The Iowa Review, The Massachusetts Review, Prairie Schooner, Barrow Street, The Journal, Poetry Daily, AGNI, New England Review, The Literary Review, Ploughshares, The Kenyon Review etc. Im Oktober 2011 erlebte das "Oratorio-Requiem" Kursk, dessen Libretto aus zehn Gedichten von Polonskaya besteht, beim Melbourne Arts Festival seine viel beachtete Uraufführung. 2013 erschien bei Zephyr Press der zweisprachige Band Paul Klee's Boat mit akutellen Gedichten, der sowohl für den Best Translated Book Award 2014 als auch für den PEN Award for Poetry in Translation 2014 nominiert war.

Leseprobe

Das ist der dritte und vielleicht letzte Lebensabschnitt. Was sehe ich vor mir? Regen aus farbigen Vorhängen. Die Sonne sättigt ihn mit Farben, und er strömt unaufhörlich, ohne Spuren zu hinterlassen. Was höre ich? Als stiege jemand leise Stufen herunter. Aber dem ist nicht so. Außer mir ist niemand im Haus. Wie kann man die Erinnerung töten? Wir sind deine Gefangenen. Die durch die Gitterstäbe mit dem Blick nach dem einzigen Stern haschen. Vielleicht ist das ja unser Stern? Man darf sich nach Vergangenem nicht umdrehen. Sonst verwandeln sich die Sterne zu Asche. Jeden Morgen sickert an Krankenhaus erinnerndes Dezemberlicht unter den kurzen Stoff-rollos herein. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Jetzt weiß ich, es gibt Schlimmeres als den nördlichen Himmel. Wenn du einem Menschen in die Augen siehst und begreifst, dass er nicht wieder der von früher werden wird. Seine Lebenskräfte wurden ihm von Zeit und Krankheit genommen. Zerschnitten ist seine Seele. Als wäre ein Skiläufer im Schlittschuh-schritt über unberührtes ebenes Gelände gelaufen. Vor vielen Jahren betrat ich die Antwerpener Liebfrauen-Kathedrale - ein einmaliges Wunder - und ließ mir einen Wunsch wahrsagen, indem ich Blut auf ein vollgeschriebenes Blatt im Buch der Wünsche tropfen ließ. Ich stach mir mit einer Stecknadel in den Finger, damit er sich erfüllte. Das Lebenslicht glimmt, und der Wunsch verwandelt sich in Asche. Ich habe zu oft zurückgeblickt. Nebel brennt mir ins Stirnbein. Gegen vier Uhr nachmittags stürzt das Licht in einen schwarzen Abgrund. Und mir wird leichter. Der Schrei der Enten über der Vogelinsel lässt vermuten, dass das Leben noch existiert. Wir holen Viktors (Betonung auf der letzten Silbe) Koffer im Hotel ab und fahren zu mir. Ich wohne direkt am Fluss. "Was für ein Nebel", sagt er. "Der ist hier fast das ganze Jahr." Viktor ist auf der Durchreise in der Stadt. Wir haben uns nicht gesehen, seit ich das letzte Mal eine Fotoausstellung nach Amerika brachte. Am Tag nach der Eröffnung rief er mich an und bat um ein Treffen. Ich wusste fast gar nichts von diesem Mann, außer dass er ein recht bekannter Journalist ist und hervorragend russisch spricht. Es ging das Gerücht, Viktor sei ein Spion. Viktor lud mich zum Geburtstag seiner Exfrau ein. Eine ziemlich merkwürdige Geste für eine zwei Tage alte Bekanntschaft.